O.K., ich habe die Romane von Caroline Wahl in der verkehrten Reihenfolge gelesen. Alle um mich herum haben mir gesagt, dass 22 Bahnen richtig gut sei. Jetzt habe ich den Roman beendet und muss zumindest zugeben: Er ist deutlich besser. Vermutlich liegt das daran, dass Tilda, die große Schwester von Ida (genauer gesagt Halbschwester), ein deutlich interessanterer Charakter als Ida ist.

Tilda kümmert sich um Ida, als sei sie ihre Mutter. Sie studiert Mathematik und ist gerade dabei, nach einem Thema für die Masterarbeit zu suchen. Sie trifft nach langer Zeit Viktor wieder. Viktors Familie ist vor fünf Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen – die Eltern, der Bruder Ivan und seine Schwester Nika. Eigentlich hätte Tilda ebenfalls im Auto sein sollen, zumindest können, denn Ivan hatte sie gefragt, ob sie mitkommt. Hier liegt eine tiefe Schuld auf Tildas Schultern, denn sie befürchtet, dass sie, Marlene und Ivan durch Alkohol und Drogenkonsum in der Nacht zuvor dessen Fahrtüchtigkeit verursacht haben.

Es dauert, bis Tilda und Viktor zusammenkommen, dass sie es aber werden, ist gleich auf den ersten Seiten des Romans klar. Mit Viktor zusammenzukommen, der in Hamburg lebt und jetzt zurückgekommen ist, um das Haus der Eltern auszuräumen, bedeutet gleichermaßen, Ida bei der alkoholkranken Mutter zurückzulassen. Nicht nur wegen Viktor, sondern auch wegen einer eventuellen Assistentenstelle in Berlin.

Und hier ärgere ich mich mal wieder. Professoren, die begabte Studierende haben, schon ganz und gar wenn es sich um eine Mathematikstudentin handelt, fördern diese und lassen sie nicht an einer Supermarktkasse arbeiten. Sie vermitteln keine Studentin an eine andere Universität, ohne die Studentin vorher bei sich im Team gehabt zu haben. Und garantiert wird nirgendwo eine Stelle mit einer Person von außen besetzt, ohne dass es eine Ausschreibung gibt. Aber lassen wir das, Fakten werden überwertet…

Dass Tilda ihren Weg machen wird, ist klar. Dass sie ihn gemacht hat, liest man im zweiten Band. Die Ida des zweiten Bandes allerdings ist nicht diejenige, die man im ersten kennengelernt hat. Die Ida am Ende von 22 Bahnen ist, nach vielen Entwicklungsschritten, unfassbar klar und entschlossen. Hat sie denn wirklich danach solche Rückschritte gemacht? Nimmt sie ihrer Schwester in Band 2 wirklich so sehr übel, was sie in Band 1 so erwachsen als deren Chance gesehen hat?

Uneingeschränkt positiv ist das erzählerische Repertoire der Autorin zu bewerten. Sie macht es sich nicht einfach und wechselt sowohl die Zeitebenen als auch die Zeit der Narration. So rücken einzelne Szenen beim Leser in das unmittelbare Erleben. Diese unterschiedlichen Distanzen machen die größtenteils bedrückende Lektüre durchaus mitunter spannend.

In den Buchhandlungen liegt jetzt der dritte Roman von Caroline Wahl aus. Jetzt bin ich wirklich gespannt.

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